Zeugnissprache / Geheimcodes – Arbeitszeugnisse richtig lesen

Entwicklung der Zeugnissprache

Die Art und Weise, jemanden mittels eines Arbeitszeugnisses zu beurteilen, ist ständigen Veränderungen unterworfen, darüber hinaus auch branchenabhängig. Mit der Zeit werden abgenutzte Formulierungen durch neue ersetzt, und allzu bekannt gewordene Verschlüsselungen weichen einer differenzierteren Art, Kritik zu üben. Das macht es weder dem Arbeitgeber leicht, ein zu 100% korrektes Zeugnis auszustellen, noch dem Arbeitnehmer, die Formulierungen richtig zu deuten.

Im Moment bewegt sich der Trend von allzu plakativen Aussagen hin zu einer stärkeren Individualisierung des Arbeitszeugnisses, um die jeweilige Persönlichkeit des Arbeitnehmers nicht durch Floskeln zu überdecken. Eine sehr sinnvolle Sache, die nun aber wieder die große Gefahr birgt, zu sehr von der etablierten Sprache abzuweichen und ungewollt Negatives hineinzubringen.

Die Gratwanderung zwischen der Personalisierung eines Zeugnisses und peinlich genauer Ausschaltung möglicher Fallen und Missverständnisse kann deshalb heute kaum noch ohne professionelle Hilfe gemeistert werden. Hierbei ist unbedingt darauf zu achten, dass vom Anbieter eines solchen Services auf die jeweilige Branche eingegangen und keine vermeintlich universelle, vorgefertigte Lösung übergestülpt wird.

 

Das wohl am häufigsten mit Arbeitszeugnissen verknüpfte Thema "Geheimcodes" hat heute nur mehr untergeordnete Bedeutung: Da viele früher verwendeten Formulierungen nicht zulässig sind – was inzwischen durch zahlreiche Urteile belegt und deshalb schnell und einfach angefochten werden kann –, wird sich kaum noch ein Arbeitgeber auf dieses Glatteis wagen.

Um trotzdem Negatives zur Sprache bringen zu können, wird auf bestimmte Verschlüsselungstechniken zurückgegriffen. Hierbei unterscheidet man mehrere verschiedene Arten, u.a.:

Negation
Wird ein Sachverhalt zwar insgesamt positiv, aber mit Hilfe von Verneinungen ausgedrückt, weist dies auf eine Abwertung hin.
Beispiel: "Sein Verhalten war ohne jeden Tadel." Die Aussage hört sich im ersten Augenblick positiv an; die Wörter "ohne" und "Tadel" beinhalten jedoch eine negative Konnotation. Ein gute Beurteilung müsste demnach lauten: "Sein Verhalten war stets vorbildlich."

Passivierung
Beispiele: "Die ihm gesetzten Termine wurden von Herrn Maier stets eingehalten." (klingt sehr passiv, das Mindestmaß erfüllend) oder
"Danach wurde er als Sachbearbeiter in unserer Niederlassung in Hamburg eingesetzt." (klingt nicht gerade nach Aufstieg ...)
Auf den ersten Blick scheint nichts Negatives an solchen Aussagen zu sein, doch hier schnappt wieder die bekannte Falle zu: Alltagssprache ist nicht gleich Zeugnissprache! Mit passiven Formulierungen distanziert man sich von seinem Mitarbeiter oder bescheinigt ihm fehlendes Engagement.

Einschränkung / Relativierung
Sehr deutlich wird eine Abwertung durch einschränkende Adverbien (deshalb nicht ganz so häufig angewandt).
Beispiel: "In der Regel erreichte Frau Müller die ihr gesetzten Ziele." (also: gar nicht!) oder "Im Großen und Ganzen können wir Herrn Probst überdurchschnittlichen Erfolg bescheinigen." (der überdurchschnittliche Erfolg ist nun ganz und gar nicht mehr glaubwürdig)

Auslassung / "beredtes Schweigen"
Wird auf ein obligatorisches Element nicht eingegangen (siehe Zeugnisaufbau), kann davon ausgegangen werden, dass damit grober Tadel geübt wird, z.B. keine Erwähnung von Erfolgen. Hierin besteht auch die größte Gefahr, wenn das Zeugnis selbst formuliert werden darf: Aus Unwissenheit oder vermeintlicher Unwichtigkeit werden schnell essenzielle Elemente unterschlagen; diese Unterlassungen sind aber mit negativen Wertungen gleichzusetzen.
Da das Fehlen eines bestimmten Elements vom ungeübten Leser oft nicht bemerkt wird, wird diese Technik von Arbeitgebern sehr gerne angewandt.

Erwähnung von Selbstverständlichem
Wird Selbstverständliches über Gebühr betont, hat dies das Gegenteil zu bedeuten. Bescheinigt der Arbeitgeber zum Beispiel einer Assistentin, dass sie den Drucker gut bedienen konnte, so heißt das übersetzt nichts anderes, als dass sie leider zu nichts anderem fähig war.
Besondere Vorsicht ist hier bei der Tätigkeitsaufzählung geboten: "Tee kochen" und "Akten kopieren" machen keinen guten Eindruck, auch wenn es sich um tatsächlich (hoffentlich nur gelegentlich) ausgeführte Tätigkeiten handelt. Hier geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um eine geeignete Auswahl der wichtigsten Aufgabenfelder, die den Job am besten charakterisieren.

Mehrdeutigkeit
Auch wenn in einem Zeugnis theoretisch keine doppeldeutigen Formulierungen verwendet werden dürfen (siehe Urteile/ FAQs), ist dies ein sehr beliebtes Mittel, um versteckte Kritik zu üben.
Beispiel: "Frau Huber hielt stets alle Fäden in der Hand." (kann auch heißen: Kontrollzwang)
Um zu entscheiden, ob es sich auch wirklich um eine negative Formulierung handelt, muss der Satz aber im Zusammenhang mit dem restlichen Zeugnistext gelesen werden. Nur wenn auch der Gesamtkontext negative Tendenzen aufweist, wird der Leser im Zweifelsfall von einer schlechten Beurteilung ausgehen.

Übertreibung / Ironie
Übertreibung und Ironie sind leicht zu erkennende und deshalb weniger oft angewandte Stilmittel.
Beispiele: "Dank ihrer Urteils- und Denkfähigkeit konnte sie alle Tätigkeiten erfolgreich erledigen." (eine gewisse Urteils- und Denkfähigkeit besitzt jeder Mensch; ohne wertendes Adjektiv deshalb sehr ironisch)
"Mit Herrn Mahlzahn verlieren wir einen wirklich außerordentlich tollen Mitarbeiter." (die doppelte Bekräftigung und das unpassende Adjektiv "toll" lässt auf Übertreibung schließen)

Widerspruch
Leistungszusammenfassung und Schlussformulierung besitzen in einem Zeugnis zwar den höchsten Stellenwert; allerdings sollte man überprüfen, ob diese nicht in völligem Widerspruch zu den restlichen Beurteilungen stehen: Lässt der Fließtext auf einen eher unterdurchschnittlichen Mitarbeiter schließen, ist auch eine Zufriedenheitsformel mit der Note 1 nicht glaubwürdig.
Aber auch die einzelnen Beurteilungen untereinander sollten sich nicht widersprechen.

veränderte Reihenfolge
Für einige Aussagen ist die Einhaltung einer Reihenfolge zwingend notwendig (siehe Zeugnisaufbau). Auch eine unpassende Verschiebung einzelner Elemente (z.B. Beurteilung des sozialen Verhaltens vor der Leistung) weist auf Auffälligkeiten in dieser Angelegenheit hin.

Generell gilt: Stolpert der Zeugnisempfänger über eine Textstelle – aus welchem Grund auch immer –, wird er sie zunächst auf eine etwaige Verschlüsselung hin abklopfen.
Je kritischer der übrige Zeugnistext ist, desto eher wird der Leser im Zweifelsfall zu einer negativen Interpretation tendieren.